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Was ist Weltenbau? – Teil 3: Von Odysseus bis Oz

Das Oxford Dictionary of Science Fiction definiert „World Building“ als „die Erfindung einer fiktionalen Welt und ihrer Geographie, Biologie, Kulturen etc., insbesondere für die Nutzung als Setting für Science-Fiction- oder Fantasy-Erzählungen, -spiele, etc.“

Kommt ein so komplexer Akt wie die Schöpfung und Gestaltung neuer Universen mit so einer knappen Definition aus? In der Reihe „Was ist Weltenbau?“ nimmt Weltenbau Wissen das Konzept gründlich auseinander, durchleuchtet den Schöpfungsprozess der Welt von „Dragon Age“ und gibt im letzten Teil einen Überblick über die Geschichte fiktiver Welten.

Eine Welt, die mit unserer Realität nichts zu tun hat? Kein Problem. Eine menschliche Zivilisation in einer fremden Galaxie? Wieso nicht. Inzwischen geht fast alles, was man sich für fiktive Welten vorstellen kann. Das bewies das abgedrehte, auf verschiedenen Existenzebenen angesiedelte PC-Rollenspiel „Planescape: Torment“ schon 1999 ebenso wie die „Guardians of the Galaxy“, deren Erfolg in diesem Jahr einem ganzen Füllhorn von bizarren Charakteren des Marvel-Comic-Multiversums die Kinotüren für eigene Auftritte in den kommenden Jahren geöffnet hat. Elfen, Zwerge, Orks oder Lichtschwerter, Wurmlöcher und Aliens: Alles bereits bekannt und etabliert, fast schon kalter Kaffee. Fantasy und Science-Fiction sind schon lange Mainstream und sind inzwischen in unzählige Sub-Genres zersplittert.

Das war natürlich nicht immer so. Die größten Schritte haben beide Genres im 20. Jahrhundert gemacht, doch wer kam eigentlich auf das erste fiktive Land? Wer hat sich zum ersten Mal eine andere Welt als unsere Erde ausgedacht? Und warum? Weltenbau Wissen geht auf Zeitreise.

Ca. 800 v. Chr – Mythen und das Unbekannte: Homers „Odyssee“

Mystische Orte und Vorstellungen von jenseitigen Welten gibt es seit langem. Fantastische Berichte von außergewöhnlichen Ländern und Kreaturen stammen schon seit der Antike von den Rändern der bekannten Welt. Je weiter etwas entfernt lag, desto glaubwürdiger wurden Geschichten über eigentlich unglaubwürdige Phänomene – etwas, das bis in unsere Gegenwart Bestand hat. In vielen Kulturen gab es außerdem Vorstellungen von einem Jenseits oder einer Unterwelt, die sich unter, über oder auf der Welt befanden, nur eben an einem unbekannten oder unerreichbaren Ort. Mythen waren Teil des Alltags.

Mythen waren Teil des Alltags

Homers „Odyssee“ gab diesem Phänomen erstmals einen größeren, formalen Rahmen: Odysseus bereist all diese mystischen Orte und das Publikum lernt sie durch seine Beschreibungen kennen. Fiktive Orte sind dabei oft als Inseln in die reale Welt eingebettet – auch das wurde und wird bis heute gern kopiert. So besuchen Odysseus und seine Begleiter etwa die Inseln des Zyklopen und der Sirenen oder Aiolia, die schwimmende Insel des griechischen Windgottes Aiolos. Ob diese Inseln wirklich existierten, konnten nur Entdecker überprüfen. Den gleichen Mechanismus machte sich einige Jahrhunderte später auch Platon für sein Atlantis zunutze. Bis heute versuchen viele Hobbyforscher, die Inseln der Odyssee und die Lage des untergegangenen Atlantis geografisch zu verorten.

Ca. 150 n. Chr. – Die erste Science-Fiction: Lukians „Wahre Geschichten“

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Mit einer Wasserfontäne zum Mond: Lukian von Samosata darf als einer der ersten Science-Fiction-Schriftsteller gelten. (Bild gemeinfrei)

Fiktive Welten entwickelten sich in der Antike zu einem probaten Mittel für philosophische Gedankenexperimente (etwa Kallipolis als die perfekte Stadt in Platons „Republik“) und für satirische Dichtung. Der Satiriker Lukian von Samosata schuf die bis dahin komplexeste Welt für diese Zwecke in „Wahre Geschichten“, in denen er die Reiseberichte und Geschichten anderer persifliert. Seine Fantasie scheint keine Grenzen zu kennen: So beschreibt er die Insel Galatea, die ganz aus Käse besteht, die Korken Insel, deren Einwohner Füße aus Kork haben und deswegen auf Wasser laufen können, und eine Insel, die nur von sprechenden Lampen bevölkert wird.

Am spannendsten aber ist, dass in „Wahre Geschichten“ auch Raumfahrt vorkommt: Das Schiff des Erzählers gerät auf eine Wasserfontäne, die ihn über acht Tage bis zum Mond emporhebt, wo er seinen Anker wirft. Der Mond und die Sonne sind bewohnt und die beiden Königreiche führen Krieg gegeneinander um eine Kolonie auf dem Morgenstern. Die Kulturen beider Reiche werden sogar detailliert beschrieben. Damit darf der fast 2000 Jahre alte Lukian als einer der ersten Science-Fiction-Autoren überhaupt gelten.

1357 – Reiseberichte und das Zeitalter der Entdeckungen: Die Reisen des Jehan de Mandeville

Im vierzehnten Jahrhundert prägte ein unbekannter Autor ein Genre, dass noch Jahrhunderte Bestand haben sollte: den fiktiven Reisebericht. Mit dem Ende des Mittelalters begann das Zeitalter der Seefahrer und Entdecker. Die Beschreibungen von diesen Pionieren waren oft die einzigen Quellen für Kartenzeichner und die Bevölkerung, wenn es um unbekannte und weit entfernte Länder ging – das hatte sich seit der Antike nicht geändert. Dementsprechend populär wurden Aufzeichnungen über fremde Kulturen und Landstriche.

Inspiriert von Marco Polo

Inspiriert von den detaillierten Reiseberichten Marco Polos beschrieb der Verfasser des „Buch von Jehan de Mandeville“ die fiktiven Reisen eines Ritters in den Nahen Osten und nach Asien. Dabei vermischte er reale Orte und Persönlichkeiten mit fantastischem wie dem Königreich Amazonien, in dem nur Frauen leben, dem Königreich Salmasse mit giftigen Bäumen, und dem Land Raso, in dem Kranke erhängt werden. Auch Kreaturen wie vierfüßigen Schlangen, zweiköpfigen Gänsen oder Zyklopen begegnet der Ritter Jehan de Mandeville. Diese fantastischen Elemente waren ein wichtiger Grund für die Popularität des Buchs: Es wurde in fast alle europäischen Sprachen übersetzt und über Jahrhunderte nachgedruckt. Das Genre wurde später ausgebaut und brachte weitere Weltenbau-Meilensteine hervor, beispielsweise 1726 „Gullivers Reisen“ von Jonathan Swift.

1666 – Die erste Reise zu einem fremden Planeten: „The Blazing-World“

Weltenbau Geschichte Cavendish
Cavendishs Planet berührt die Erde am Nordpol. (CC BY 2.0) Maxwell Hamilton/Flickr

1666 machte Weltenbau mehrere große Schritte auf einmal: Margaret Cavendish, Herzogin von Newcastle, veröffentlichte das Buch „The Description of a New World, Called the Blazing-World“. Die adelige Dichterin und Naturphilosophin beschrieb darin zum ersten Mal überhaupt die Reise zu einem anderen Planeten. Ihre Blazing-World ist der Erde am Nordpol so nahe, dass man mit einem Boot von einer Welt zur anderen gelangen kann. Der Planet wird von verschiedenen Tiermenschen und Geistern bevölkert und von einer Kaiserin beherrscht, es wird sogar eine Invasion des Heimatkönigreichs der Protagonistin auf der Erde beschrieben, während der Vogelmenschen Bomben werfen und Fischmenschen die Schiffe der Blazing-World ziehen.

Obwohl Cavendishs Ansatz bisher einzigartig war, fand er interessanterweise keine Nachahmer wie Jehan de Mandeville. Dabei hatte sie nicht nur die erste interplanetare Reise beschrieben, sondern auch einen eigenen Planeten erfunden (und nicht etwa Mars oder Venus genutzt). Es sollte bis 1813 dauern, bis wieder ein Werk die Reise zu einem fiktiven Himmelskörper zum Thema machen würde. Außerdem – und das ist überaus spannend – unterhält sich die Protagonistin mit der Kaiserin darüber, wie sie ihre eigene Welt regieren könnte. Sie kommen zu dem Schluss, dass das über Weltenbau gelänge und schließlich findet innerhalb des Romans Weltenbau durch die handelnden Personen statt.

Das späte 19. Jahrhundert: Science-Fiction und Fantasy gehen getrennte Wege

Im 19. Jahrhundert nahm die Zahl der Magazine, Zeitungen und Verlage stark zu und die vielen Werke in der Unterhaltungsliteratur erforderten eine klarere Abgrenzung von Genres, um dem Leser mehr Orientierung zu geben. In der Fantastik lassen sich ab diesem Zeitraum zwei Tendenzen ausmachen: Zum einen gibt es Werke, die versuchen, ihre Erfindungen auf einem einigermaßen plausiblen wissenschaftlichen Fundament aufzubauen. Zum anderen gibt es eine Weiterentwicklung von Mythen und Legenden, deren magische Komponenten mit übernommen werden.

1851 taucht der Begriff „Science-Fiction“ erstmals auf

In der frühen Science-Fiction des 19. Jahrhunderts (der Begriff „Science-Fiction“ taucht übrigens zum ersten Mal 1851 auf) gibt es neben den längst bekannten Inselwelten zwei besonders populäre Varianten von Weltenbau: fremde Planeten und unterirdische Welten. In Charles Ischir Defontenays „Star (Psi Cassiopeia)“ können Leser 1854 erstmals einen Planeten besuchen, der von der Erde weit entfernt ist und nicht von einem Erdling in Form einer Reise besucht wird. Defontenay beschreibt die Planeten Star, Tassul, Lessur, Rudar und Élier sowie ihre vier Sonnen. Die Geschichte des Romans spannt sich über einen Zeitraum von 4200 Jahren – das hatte es in der Literaturgeschichte noch nie gegeben. Reisen unter die Erdkruste werden durch Romane wie Jules Vernes „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ (1864) oder Edward Bulwer-Lyttons „Das kommende Geschlecht“ (1871) populär.

Weltenbau Geschichte Pandemonium
Gerne für Illustrationen von Edward-Bulwer Lyttons „Das kommende Geschlecht“ genutzt: „Pandemonium“ von John Martin. (Bild: gemeinfrei)

Das Fantasygenre entwickelte sich zunächst aus Weiterentwicklungen von bekannten volkstümlichen Glauben und überlieferten Motiven von der Antike bis heute. Der schottische Schriftsteller George MacDonald verfasste beispielsweise mehrere Romane, die märchenhafte und fantastische Länder beinhalten („Phantastus. Ein Feenmärchen“, „Hinter dem Nordwind“), doch Weltenbau stand dabei nicht im Vordergrund. Prägend wurde die Arbeit von Lyman Frank Baum, dem Erfinder von Oz. 1900 erschien mit „Der Zauberer von Oz“ der erste Roman einer später 14 Teile umfassenden Reihe und der Detailgrad im Weltenbau übertraf fast alles, was es zu dieser Zeit bereits gab.

Die Werke der Autoren des 19. Jahrhunderts und der Jahrhundertwende schließlich waren das Futter, mit dem die großen Fantastik-Schriftsteller des 20. Jahrhunderts aufwuchsen. Sowohl John R. R. Tolkien als auch Clive S. Lewis schrieben später über den Einfluss, den die Literatur ihrer Kindheitstage auf ihr Schaffen hatte. Heute gelten wiederum diese Autoren für viele nach wie vor als wichtige Inspiration. Wir profitieren mehr denn je von der langen Geschichte des Weltenbaus.

Mehr lesen:

  • Mark J. P. Wolf: Building imaginary worlds. The theory and history of subcreation; Routledge Chapman & Hall. Taschenbuch, ca. 30 Euro.
  • Lin Carter: Imaginary Worlds: The Art of Fantasy; Ballantine Books. Taschenbuch, ca. 10 Euro.

Titelbild: „Ulysses and the Sirens“, John William Waterhouse (gemeinfrei)

2 Gedanken zu „Was ist Weltenbau? – Teil 3: Von Odysseus bis Oz“

  1. Das mit Lukians „Wahren Geschichten“ kannte ich noch nicht und finde es echt hochinteressant, wie früh man schon auf die Idee kam, zum Mond zu reisen. Über das damalige Weltbild bin ich mir jetzt nicht im Klaren, aber da würde mich die Geschichte mal in diesem Kontext interessieren.

    1. Gemeint war das als satirischer Text. Lukian hat auch das Wolkenkuckucksheim von Aristophanes in „Wahre Geschichten“ verarbeitet (auch eine Satire). Damit wäre das auch eines der ersten Werke, das einen erfundenen Ort eines anderen Autors mit einbezieht.

      Ich weiß es nicht ganz genau, aber ich meine mich zu entsinnen, dass einige Gelehrte zu Lukians Zeit bereits von einem relativ modernen Bild der Erde und der Gestirne ausgingen. Zumindest war die Erde für sie nicht flach 😉

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